Neom: grüner Traum oder glänzender Alptraum?
Der Name Mohammed Bin Salman (kurz: MBS) dürfte vielen noch frisch in den Ohren klingen, denn beim saudi-arabischen Kronprinzen war Olaf Scholz gerade vorstellig geworden, um bei dem Autokraten nach Energielieferungen anzufragen. Vielleicht ist einem der Name aber auch durch den Mord an dem regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggi noch geläufig, den allem Anschein nach BMS höchstpersönlich beauftragt haben soll. Euer Hoheit hat aber auch durch ein gigantisches Bauprojekt Schlagzeilen gemacht, das den Namen Neom trägt, was für eine „neue Zukunft“ des städtischen Lebens stehen soll.
Lösungen für die dringenden Fragen unserer Zeit
Die Vision des Prinzen beinhaltet beileibe Neues, um nicht zu sagen: Revolutionäres. Die eigentliche Stadt, The Line genannt, die im Rahmen des Bauprojektes Neom entstehen soll, soll ihren Energiebedarf komplett emissionsfrei abdecken. Sie soll so konzipiert sein, dass alle Einrichtungen des täglichen Lebens für jeden Bewohner innerhalb von fünf Minuten zu Fuß erreichbar sein sollen. Das Klima in The Line soll von gleichbleibend angenehmen Temperaturen gekennzeichnet sein. Der eigentliche Clou ist jedoch die Bauweise: The Line soll ein gigantisches Gebäude von 170 km Länge, 200 m Breite und 500 m Höhe sein, verkleidet mit einer reflektierenden Hülle, die die brütende Hitze der sie umgebenden Wüste abhalten soll. In ihr soll ein Hochgeschwindigkeitszug dafür sorgen, dass man von einem zum anderen Ende der Stadt nur 20 Minuten braucht.
Die Idee dieser Zukunftsstadt ist durchaus faszinierend und scheint eine mögliche Antwort auf die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu bieten. Statt riesige Flächen zu versiegeln, lässt The Line den allergrößten Teil der sie umgebenden Natur unberührt. Statt Massen an benötigter Energie aus der Ferne heran zu transportieren, erzeugt man sie weitestgehend selbst und so unschädlich, dass die Bewohner von The Line von gesunder Luft umgeben sein werden, die zudem durch integrierte Grünflächen erzeugt wird. Auch von Staus oder anderen Unannehmlichkeiten des Individualverkehrs soll man in der Wüstenstadt verschont bleiben. Dafür sorgt das Konzept der fußnahen Versorgung sowie die schon erwähnte schnelle Bahn.
Ist Neom machbar und wenn ja, wünschenswert?
Laut Mohammed Bin Salman sollen bereits 2030 über eine Million Menschen in The Line leben. Das darf jedoch bezweifelt werden, denn auch wenn die Bauarbeiten begonnen haben, dürfte ein Erstbezug in ein Objekt dieses Ausmaßes in weiter Ferne liegen. Viele halten die Umsetzung der Neom-Vision prinzipiell für unwahrscheinlich, denn alleine schon die Finanzierung scheint trotz des Reichtums des Wüstenstaats und Plänen, das Projekt an die Börse zu bringen, zumindest kurz- bis mittelfristig nicht möglich.
Zudem stellt sich sie Frage, wer in die Stadt der Zukunft ziehen sollte. Schließlich ist Saudi-Arabien als konservativ-islamischer Staat ohne Rechte für Frauen, ohne Meinungsfreiheit und einem Verbot von Homosexualität für westlich geprägte Menschen – und diese sollen hauptsächlich als Neubürger gewonnen werden – nicht attraktiv. Doch die privilegierten Bewohner von The Line bräuchten die strengen Gesetze, die Mohammed Bin Salman seinen Untertanen auferlegt und die u.a. Steinigungen und die Todesstrafe für Verstöße vorsehen, nicht fürchten. Sie würden in einer Art Selbstverwaltungsgebiet leben und so wahrscheinlich weitgehend die Freiheiten westlicher Prägung genießen dürfen.
Radikale Vision eines radikalen Machthabers
Die eigentliche Frage über die Bewertung von Neom stellt sich aber bezüglich seines Gründers, Mohammed Bin Salman. Soll man das Projekt eines Autokraten überhaupt unterstützen, auch wenn es noch so viele Probleme angeht? Allein die Tatsache, dass in The Line andere Gesetze gelten würden als im ansonsten fundamentalistisch-islamischen Saudi-Arabien schreit zum Himmel. Auch das Konzept an sich, das die Bewohner von The Line von der eigentlichen Natur komplett abschottet, kann man hinterfragen – sollten wir nicht vielmehr lernen im Einklang mit der Natur zu leben und nicht von ihr getrennt?
Ganz unabhängig von der Machbarkeit von Neom kann man das Projekt jedoch auch als Vorbild nehmen, um einige Probleme des Städtebaus anzugehen: weniger Versiegelung, weniger Inividualverkehr, mehr saubere Energie. Neon bringt auf radikale Art zum Ausdruck, woran es in den bestehenden Städte krankt. Vielleicht regt die Vision dieser „neuen Zukunft“ ja gerade durch ihre abschreckende Radikalität dazu an, Probleme konsequenter anzugehen – damit wir nicht dazu verdammt sein werden, in Städten wie The Line leben zu müssen!